Die rasante technologische Entwicklung in der Industrie führt zu einem kontinuierlichen Wandel der technischen Standards. Digitalisierung, Vernetzung und Automatisierung stellen Unternehmen vor neue Herausforderungen, bieten aber auch enorme Chancen für Effizienzsteigerungen und Innovationen. Um diese Potenziale voll auszuschöpfen, bedarf es einheitlicher und zukunftsfähiger Standards, die Schritt halten mit dem technologischen Fortschritt. Von Industrie 4.0 über 5G bis hin zu Künstlicher Intelligenz – neue Technologien erfordern eine Anpassung bestehender Normen und die Entwicklung ganz neuer Standards.
Industrie 4.0 als Treiber für neue technische Standards
Industrie 4.0 steht für die vierte industrielle Revolution und beschreibt die umfassende Digitalisierung und Vernetzung der industriellen Produktion. Durch die Integration von Informations- und Kommunikationstechnologien in Fertigungsprozesse entstehen Cyber-Physische Systeme , die eine flexible und effiziente Produktion ermöglichen. Diese Entwicklung stellt die Standardisierung vor neue Aufgaben.
Ein zentraler Aspekt ist die Interoperabilität zwischen verschiedenen Systemen und Komponenten. Nur wenn Maschinen, Anlagen und IT-Systeme reibungslos miteinander kommunizieren können, lassen sich die Potenziale von Industrie 4.0 voll ausschöpfen. Hierfür bedarf es einheitlicher Schnittstellen und Datenformate. Die OPC UA
(Open Platform Communications Unified Architecture) hat sich als wichtiger Standard für die herstellerübergreifende Kommunikation in der Industrie etabliert.
Auch im Bereich der Datenmodellierung werden neue Standards benötigt. Das Asset Administration Shell Konzept der Plattform Industrie 4.0 definiert ein einheitliches Format für die digitale Repräsentation von Anlagen und Komponenten. Dies ermöglicht einen standardisierten Informationsaustausch über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts hinweg.
Die Standardisierung ist der Schlüssel, um das volle Potenzial von Industrie 4.0 zu erschließen und die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu sichern.
Neben technischen Aspekten müssen auch organisatorische und prozessuale Standards angepasst werden. Neue Arbeitsmodelle wie dezentrale Steuerung und flexible Produktionssysteme erfordern angepasste Normen für Arbeitsabläufe und Sicherheitskonzepte. Die DIN SPEC 91345 “Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0” liefert hierfür wichtige Grundlagen.
5G-Technologie und ihre Auswirkungen auf Industriestandards
Die fünfte Generation des Mobilfunks, kurz 5G, revolutioniert die industrielle Kommunikation. Mit extrem hohen Datenraten, geringen Latenzen und der Möglichkeit, eine Vielzahl von Geräten gleichzeitig zu vernetzen, eröffnet 5G völlig neue Möglichkeiten für die Industrie. Diese technologischen Fortschritte erfordern eine Anpassung bestehender Standards und die Entwicklung neuer Normen.
3GPP Release 16: Erweiterungen für industrielle IoT-Anwendungen
Das 3rd Generation Partnership Project (3GPP) ist verantwortlich für die Standardisierung von Mobilfunktechnologien. Mit dem Release 16 wurden wichtige Erweiterungen für industrielle IoT-Anwendungen eingeführt. Dazu gehören verbesserte Unterstützung für Ultra-Reliable Low-Latency Communication (URLLC) und massive Machine-Type Communication (mMTC). Diese Funktionen ermöglichen präzise Echtzeitsteuerung und die Vernetzung einer großen Anzahl von Sensoren und Aktoren.
Für die Industrie bedeutet dies, dass nun Standards für hochzuverlässige Kommunikation mit extrem geringen Verzögerungen zur Verfügung stehen. Dies ist entscheidend für Anwendungen wie die Fernsteuerung von Robotern oder die Koordination autonomer Fahrzeuge in Produktionsumgebungen.
Network Slicing für maßgeschneiderte Industrienetze
Eine weitere wichtige Innovation ist das Network Slicing . Diese Technologie ermöglicht es, auf einer physischen Netzwerkinfrastruktur mehrere logisch getrennte virtuelle Netze zu betreiben. Jedes dieser “Slices” kann für spezifische Anforderungen optimiert werden. Für die Industrie eröffnet dies die Möglichkeit, maßgeschneiderte Netze für unterschiedliche Anwendungen zu implementieren.
Die Standardisierung von Network Slicing umfasst Aspekte wie die Definition von Slice-Typen, Management-Schnittstellen und Sicherheitsmechanismen. Die GSMA (GSM Association) hat hierfür Richtlinien entwickelt, die als Grundlage für industriespezifische Standards dienen.
Time-Sensitive Networking (TSN) in 5G-Infrastrukturen
Time-Sensitive Networking (TSN) ist ein Schlüsselelement für die deterministische Kommunikation in industriellen Netzwerken. Die Integration von TSN in 5G-Infrastrukturen erfordert neue Standards für die Synchronisation und Priorisierung von Datenströmen. Das IEEE (Institute of Electrical and Electronics Engineers) arbeitet an entsprechenden Erweiterungen der Ethernet-Standards.
Für die Industrie bedeutet die Kombination von TSN und 5G eine erhebliche Verbesserung der Netzwerkzuverlässigkeit und -performance. Dies ermöglicht präzise Steuerung und Koordination von Maschinen und Anlagen über drahtlose Verbindungen.
Edge Computing und seine Rolle bei Echtzeit-Datenverarbeitung
Edge Computing verlagert Rechenleistung und Datenverarbeitung an den Rand des Netzwerks, näher an die Datenquellen. In Kombination mit 5G ermöglicht dies extrem schnelle Reaktionszeiten und reduziert die Belastung der Netzwerkinfrastruktur. Für die Standardisierung ergeben sich hieraus neue Herausforderungen bezüglich Architektur, Schnittstellen und Sicherheit von Edge-Computing-Systemen.
Das ETSI MEC
(Multi-access Edge Computing) Framework liefert wichtige Grundlagen für die Standardisierung von Edge-Computing-Lösungen. Industriespezifische Erweiterungen und Anpassungen sind jedoch erforderlich, um den besonderen Anforderungen der Fertigungsumgebungen gerecht zu werden.
Edge Computing in Verbindung mit 5G wird die Art und Weise, wie Industrieunternehmen Daten verarbeiten und nutzen, grundlegend verändern.
Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen in der Standardisierung
Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML) gewinnen in der Industrie zunehmend an Bedeutung. Von der Prozessoptimierung über prädiktive Wartung bis hin zur Qualitätskontrolle – die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig. Mit der wachsenden Verbreitung dieser Technologien steigt auch der Bedarf an einheitlichen Standards und Richtlinien.
ISO/IEC JTC 1/SC 42: KI-Standardisierungsinitiativen
Das Joint Technical Committee 1 (JTC 1) der International Organization for Standardization (ISO) und der International Electrotechnical Commission (IEC) hat mit dem Subcommittee 42 (SC 42) eine dedizierte Arbeitsgruppe für KI-Standards geschaffen. SC 42 arbeitet an einer Reihe von Normen, die verschiedene Aspekte von KI und ML abdecken:
- Terminologie und Begriffsdefinitionen für KI
- Referenzarchitekturen für KI-Systeme
- Qualitätsanforderungen und Bewertungsmethoden für ML-Modelle
- Richtlinien für den Einsatz von KI in verschiedenen Anwendungsdomänen
Diese Standards sollen eine gemeinsame Basis für die Entwicklung, Implementierung und Bewertung von KI-Lösungen in der Industrie schaffen. Sie adressieren wichtige Aspekte wie Interoperabilität, Zuverlässigkeit und Transparenz von KI-Systemen.
Ethische Richtlinien für KI in der industriellen Anwendung
Neben technischen Standards gewinnen auch ethische Richtlinien für den Einsatz von KI an Bedeutung. Die Europäische Kommission hat mit ihren “Ethics Guidelines for Trustworthy AI” einen wichtigen Rahmen geschaffen. Für die industrielle Anwendung müssen diese allgemeinen Prinzipien in konkrete Standards und Handlungsanweisungen übersetzt werden.
Wichtige Aspekte umfassen:
- Transparenz und Erklärbarkeit von KI-Entscheidungen
- Fairness und Nicht-Diskriminierung in automatisierten Prozessen
- Verantwortlichkeit und Haftung bei KI-gestützten Entscheidungen
- Datenschutz und Sicherheit in KI-Systemen
Die Entwicklung entsprechender Standards erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Industrie, Forschung und Regulierungsbehörden. Nur so können praxistaugliche Lösungen gefunden werden, die sowohl ethische Anforderungen erfüllen als auch wirtschaftlich umsetzbar sind.
Federated Learning als Datenschutzstandard in verteilten Systemen
Federated Learning ist ein vielversprechender Ansatz, um die Vorteile von maschinellem Lernen zu nutzen, ohne sensible Daten zentralisieren zu müssen. Bei dieser Methode werden ML-Modelle dezentral auf den Endgeräten trainiert, während nur die Modellupdates, nicht aber die Rohdaten ausgetauscht werden. Dies ermöglicht datenschutzkonformes Lernen in verteilten Systemen.
Die Standardisierung von Federated Learning umfasst Aspekte wie:
- Protokolle für den sicheren Austausch von Modellupdates
- Methoden zur Aggregation und Konsensfindung in verteilten Lernszenarien
- Techniken zur Verhinderung von Angriffen und Manipulationen
- Metriken zur Bewertung der Modellqualität in Federated-Learning-Umgebungen
Organisationen wie das IEEE arbeiten an entsprechenden Standards, die den Einsatz von Federated Learning in industriellen Umgebungen erleichtern sollen. Dies ist besonders relevant für Branchen mit hohen Datenschutzanforderungen oder in Szenarien, wo Daten aus rechtlichen Gründen nicht zentralisiert werden dürfen.
Blockchain-Technologie und dezentrale Standards
Die Blockchain-Technologie hat das Potenzial, viele Aspekte der industriellen Wertschöpfung zu revolutionieren. Von der Lieferkettenverfolgung über sichere Transaktionen bis hin zu dezentralen Energie-Marktplätzen – die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. Mit der zunehmenden Adoption dieser Technologie wächst auch der Bedarf an einheitlichen Standards.
Eine zentrale Herausforderung ist die Interoperabilität zwischen verschiedenen Blockchain-Systemen. Die ISO/TC 307
arbeitet an Standards für Blockchain und Distributed-Ledger-Technologien, die eine nahtlose Integration in bestehende Geschäftsprozesse ermöglichen sollen. Dazu gehören Spezifikationen für Smart Contracts, Governance-Strukturen und Datenschutzaspekte.
Für die Industrie sind insbesondere Standards für den Einsatz von Blockchain in der Lieferkette relevant. Die Blockchain in Transport Alliance (BiTA) entwickelt Standards für die Logistikbranche, die Transparenz und Effizienz in globalen Lieferketten verbessern sollen. Diese umfassen einheitliche Datenformate für Frachtdokumente, Protokolle für den Informationsaustausch und Methoden zur Verifizierung von Transaktionen.
Blockchain-Standards werden entscheidend sein, um das Vertrauen in dezentrale Systeme zu stärken und ihre breite Adoption in der Industrie zu ermöglichen.
Cybersicherheit und neue Sicherheitsstandards für vernetzte Systeme
Mit der zunehmenden Vernetzung industrieller Systeme wächst auch die Bedeutung der Cybersicherheit. Neue Technologien wie IoT und 5G eröffnen Angriffsvektoren, die durch traditionelle Sicherheitskonzepte nicht ausreichend abgedeckt werden. Dies erfordert die Entwicklung neuer Sicherheitsstandards, die den Herausforderungen vernetzter Produktionsumgebungen gerecht werden.
IEC 62443: Sicherheitsstandards für industrielle Automatisierungssysteme
Die Normenreihe IEC 62443 ist der zentrale Standard für die Sicherheit industrieller Steuerungs- und Automatisierungssysteme. Sie definiert ein umfassendes Framework für die Implementierung von Cybersicherheitsmaßnahmen in industriellen Umgebungen. Die Standards decken verschiedene Aspekte ab:
- Allgemeine Sicherheitsanforderungen und Sicherheitsgrade
- Richtlinien für die Implementierung eines Informationssicherheits-Managementsystems
- Spezifikationen für sichere Systementwicklung und Integration
- Anforderungen an die Sicherheit von Kompon
- Anforderungen an die Sicherheit von Komponenten und Systemen
Die kontinuierliche Weiterentwicklung der IEC 62443 berücksichtigt neue Bedrohungsszenarien und technologische Entwicklungen. Aktuelle Erweiterungen adressieren beispielsweise Sicherheitsaspekte von Cloud-Diensten und Edge-Computing in industriellen Umgebungen.
Zero-Trust-Architektur als neuer Sicherheitsansatz
Das Zero-Trust-Modell gewinnt in der industriellen Cybersicherheit zunehmend an Bedeutung. Im Gegensatz zu traditionellen Ansätzen, die sich auf die Absicherung des Netzwerkperimeters konzentrieren, geht Zero Trust davon aus, dass kein Netzwerk, Gerät oder Benutzer per se vertrauenswürdig ist. Stattdessen wird jede Anfrage und jeder Zugriff kontinuierlich überprüft und authentifiziert.
Für die Implementierung von Zero Trust in industriellen Umgebungen werden neue Standards benötigt, die Aspekte wie:
- Mikrosgementierung von Netzwerken
- Kontinuierliche Authentifizierung und Autorisierung
- Verschlüsselung der Kommunikation auf allen Ebenen
- Umfassendes Logging und Monitoring
adressieren. Das National Institute of Standards and Technology (NIST) hat mit der Special Publication 800-207 einen Leitfaden für Zero-Trust-Architekturen veröffentlicht, der als Grundlage für industriespezifische Standards dienen kann.
NIST Cybersecurity Framework und seine globale Anwendung
Das NIST Cybersecurity Framework hat sich als de-facto Standard für das Management von Cybersicherheitsrisiken etabliert. Es bietet einen flexiblen Ansatz, der Organisationen dabei hilft, ihre Cybersicherheitsmaßnahmen zu strukturieren und zu priorisieren. Das Framework basiert auf fünf Kernfunktionen:
- Identify (Identifizieren)
- Protect (Schützen)
- Detect (Erkennen)
- Respond (Reagieren)
- Recover (Wiederherstellen)
Für die Industrie ist besonders relevant, dass das NIST Framework mit anderen Standards wie der IEC 62443 harmonisiert werden kann. Dies erleichtert die Integration in bestehende Managementsysteme und ermöglicht einen ganzheitlichen Ansatz für die industrielle Cybersicherheit.
Quantum-Safe Cryptography: Vorbereitung auf die Post-Quanten-Ära
Mit der Entwicklung leistungsfähiger Quantencomputer wächst die Bedrohung für viele derzeit verwendete kryptografische Verfahren. Um industrielle Systeme langfristig zu schützen, müssen quantensichere Verschlüsselungsmethoden entwickelt und standardisiert werden.
Das National Institute of Standards and Technology (NIST) hat einen Prozess zur Standardisierung post-quantenkryptografischer Algorithmen initiiert. Die ausgewählten Algorithmen sollen resistenz gegen Angriffe sowohl mit klassischen als auch mit Quantencomputern bieten. Für die Industrie bedeutet dies, dass bestehende Sicherheitsinfrastrukturen schrittweise auf quantensichere Verfahren umgestellt werden müssen.
Die frühzeitige Vorbereitung auf die Post-Quanten-Ära ist entscheidend, um die langfristige Sicherheit kritischer industrieller Infrastrukturen zu gewährleisten.
Nachhaltigkeitsstandards und Green IT in der Industrie
Nachhaltigkeit und Umweltschutz gewinnen in der Industrie zunehmend an Bedeutung. Dies spiegelt sich auch in der Entwicklung neuer Standards wider, die darauf abzielen, den Energieverbrauch zu reduzieren und die Ressourceneffizienz zu steigern. Green IT spielt dabei eine Schlüsselrolle, indem sie Technologien und Prozesse optimiert, um den ökologischen Fußabdruck der industriellen Digitalisierung zu minimieren.
Ein wichtiger Standard in diesem Bereich ist die ISO 14001 für Umweltmanagementsysteme. Sie bietet einen Rahmen für Unternehmen, um ihre Umweltauswirkungen systematisch zu erfassen und zu verbessern. Spezifisch für die IT-Branche wurde die EN 50600 entwickelt, die Richtlinien für energieeffiziente Rechenzentren festlegt.
Für die Industrie 4.0 werden derzeit Standards entwickelt, die Nachhaltigkeitsaspekte in die digitale Transformation integrieren. Dazu gehören:
- Metriken zur Messung und Optimierung des Energieverbrauchs von IoT-Geräten
- Richtlinien für das nachhaltige Design von Produkten und Produktionsprozessen
- Standards für die Implementierung von Kreislaufwirtschaftskonzepten in digitalen Wertschöpfungsketten
Die Entwicklung dieser Standards erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Industrie, Forschung und Umweltorganisationen. Nur so können Lösungen gefunden werden, die sowohl ökologisch nachhaltig als auch wirtschaftlich tragfähig sind.
Nachhaltigkeitsstandards werden zunehmend zu einem Wettbewerbsfaktor in der Industrie. Unternehmen, die frühzeitig auf Green IT und nachhaltige Digitalisierung setzen, sichern sich langfristige Vorteile.
Die Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in technische Standards ist ein wichtiger Schritt, um die Industrie 4.0 mit den globalen Klimazielen in Einklang zu bringen. Dies erfordert ein Umdenken in der Produktentwicklung, der Prozessgestaltung und der Ressourcennutzung. Neue Standards müssen dabei helfen, Nachhaltigkeit messbar und vergleichbar zu machen, um Fortschritte transparent zu dokumentieren und Best Practices zu etablieren.